Das Findelkind vom Tränketor (Sage)

"Das Findelkind vom Tränketor" ist eine Sage aus dem Fürstentum Waldeck.

Inhalt

Die Sage wurde von Marie Schmalz aufgezeichnet und 1913 in dem Buch Sagen aus der waldeckischen Heimat veröffentlicht. Der Wortlaut der Sage nach Marie Schmalz lautet wie folgt: [1]

"Es war um den Anfang des 15. Jahrhunderts. Das Berndorfer- und das Lengefelder-, das Enser-, das Dalwigker- und das Tränketor in Corbach waren schon geschlossen. Die Stadt lag im Dunkel; nur am Tränketor brannte noch das Licht. Der Torwächter ging nochmals hinaus, um es zu löschen.
Da hörte er ein leises Wimmern vom Tränketeich her. Zuerst glaubte er, daß eine Nixe ihn narren wolle. Ab da das Wimmern immer ärger wurde, ging er mit seiner Laterne nach dem Wasser zu. Als er näher kam, merkte er, daß es eine Kinderstimme war, die von der kleinen Insel des Teiches herüber klang, auf der die Lohgerberhäuschen standen. Rasch löste er den Einbaum vom Ufer und lenkte ihn zu der Insel hin. Da lag ein etwa dreijähriges Mädchen im Schilfe, an dem es sich festhielt, und weinte so herzbrechend, wie nur Kinder weinen können.
Der gutherzige Torwächter, dem das Glück, ein Kind sein eigen zu nennen, versagt geblieben war, nahm sich der Kleinen an und brachte sie seiner Frau in die warme Stube.
Das Kind trug feine Kleider, die ganz durchnäßt waren. Als es in trockene Tücher gehüllt war und warme Milch getrunken hatte, wurde es zutraulich. Die Kleine erzählte, böse Männer seien gekommen, hätten den Nikolaus geschlagen, ihm das Pferd weggenommen und sie in das Wasser geworfen. Der Torwächter, der eine neue Büberei des Ritters in der Eidinghausen ahnte, machte sofort Anzeige bei dem Bürgermeister. Mit einem Trupp Stadtknechte suchte er dann mit Fackeln die Umgebung des Tränketors ab. Da sahen sie auf dem Tränketeiche einen toten Reitersmann schwimmen. Mühsam zogen sie ihn ans Land. Viele Wunden bedeckten seinen Leib; offenbar war er erschlagen und dann ins Wasser geworfen worden. Der stumme Mund konnte die Mörder nicht nennen. Nichts fand sich bei ihm was über seine Person hätte Auskunft geben können.
Am anderen Tage wurden die Nachforschungen fortgesetzt, aber man fand nur in einer Entfernung von etwa tausend Ellen eine Blutlache. Jedermann in Corbach schrieb dem Eidinghäuser die Untat zu. Aber wer konnte es beweisen?
Da sich niemand wegen des Kindes meldete, überließ man es dem Torwächterhepaar, das überglücklich darob war.
Es waren einige Jahre ins Land gegangen, als eines Tages der Herr von Thülen aus Corbach in der Nähe des Tränketors mit seinem Töchterchen lustwandelte. Da fiel ihm das feine Gesicht des Kindes des Torwächters auf, und er dachte bei sich: "Wie bekannt kommen Dir die Gesichtszüge dieses Kindes vor!" Das fremde Kind, das gerade so alt war wie sein eigenes Töchterchen, erregte sein Wohlgefallen. Er sagte deshalb zu dem Torwächter, er wolle es mit seiner Tochter unterrichten lassen. Das Findelkind genoß nun einen guten Unterricht und war in dem Thülenschen Hause wohl gelitten.
Die Jahre gingen, und aus den Kindern wurden schöne Jungfrauen. Der Herr von Thülen wußte jetzt, wem die schwarze Agnes ähnlich sah, die seiner blonden Eva den Ruhm, das schönste Mädchen der Stadt zu sein, streitig machte.
Er hatte eine jüngere Schwester gehabt, die er zärtlich liebte. Diese hatte bei einem Turnier einen kaiserlichen Ritter kennen gelernt und war ihm als sein Weib an den Hof des Kaisers gefolgt. Alles Abreden des Bruders, der gern die einzige Schwester in der Stadt behalten hätte, hatte nichts geholfen. Im ersten Jahre war einmal Kunde von ihr durch einen durchreisenden kaiserlichen Kurier zu ihm gedrungen. Weiter hatte er nichts mehr von ihr gehört. Später erfuhr er, daß die Pest in dem kaiserlichen Heere gewütet habe. Da nahm er an, daß auch seine Schwester von dem schwarzen Tode dahingerafft sei. Wegen der Ähnlichkeit mit dieser Schwester war Agnes dem Ritter ans Herz gewachsen. Nun sollte wieder einmal am Reginentag in Corbach der Sieg der Stadt über die Herren von Padberg gefeiert werden. Zur besonderen Feier des Tages war ein Turnier angesagt.
Auf der Stechbahn waren auf beiden Seiten Tribünen aufgebaut, wo Adlige und Patrizier aus der Stadt und Umgegend dem Kampfspiele zusahen. Der Bürgermeister und die Ratsherren der Stadt hatten dicht neben dem Rathause eine Tribüne inne. Eva von Thülen sollte den Preis, ein prachtvolles Schwert, dem Sieger überreichen.
Acht Ritter hatten sich gemeldet: der Ritter Heinrich von Megedeveld, Wolf und Christian von Engern, zwei Brüder, wegen ihrer Tapferkeit weit und breit bekannt, Jobst von Holzhusen, die Ritter von Itter und Dalwigk und Hermann von Schwerte, ein Bewohner Corbachs. Es waren gefürchtete Gegner für den Eidinghäuser. Daß dieser sich auch gemeldet hatte, war wohl keinem Corbacher recht, da dem Eidinghäuser viele Schandtaten nachgesagt wurden. Jedoch konnte niemand ihm etwas beweisen.
Die schöne Agnes hätte keinen Zutritt zu der Tribüne erhalten, wenn nicht Eva von Thülen ihre Jugendgespielin als Dienerin mitgenommen hätte, damit sie ihr das Schwert reiche. Die Tochter des Torwächters trug nur ein einfaches, weißes Leinenkleid, aber gleichwohl war sie die Schönste von allen. Der einzige Schmuck, den sie trug, war ein Armband von solch feiner Arbeit, daß alle Damen sie gern nach der Herkunft dieses edlen Stückes gefragt hätten.
Agnes trug den Schmuck zum ersten Male. Als sie sich nämlich von ihrer Pflegemutter am Morgen in ihrer Kammer schmücken ließ, bat sie diese, ihr nochmals die Geschichte ihrer Auffindung zu erzählen. Die alte Frau holte das Kleidchen und ein gesticktes Täschchen herbei, das dem Kinde umgegangen hatte. Zufällig drückte das junge Mädchen auf einen verborgenen Knopf. Das Täschchen sprang auf, und darin war das Armband. Da es vielleicht das einzige Wertstück war, das sie von ihren leiblichen Eltern erhalten hatte, freute sie sich sehr über den Fund und legte es zu dem Turnier an.
Jetzt ritten die Ritter, mit bunten Helmbüschen geziert, unter Trompetengeschmetter in die Bahn. Paarweise begann dann der Kampf.
Zwei Gegner hatte der Eidinghäuser bereits aus dem Sattel gehoben, denn darin war er Meister. Eben ritt ihm der jung Wolf von Engern entgegen, und allen Zuschauern tat es schon leid um den so beliebten Ritter, denn sie fürchteten, daß auch er das Schicksal der beiden anderen Ritter teilen werde. Aber es sollte anders kommen. Nach erbittertem Kampfe warf Wolf den Eidinghäuser aus dem Sattel, wobei dieser einen Arm und ein Bein zerbrach.
Das Turnier war zu Ende, und Wolf von Engern hatte aus Evas Hand den Preis erhalten. Indes der Sieger hatte gar kein Auge für das schöne Edelfräulein. Immer ruhte sein Blick auf Agnes.
Da kam Evas Vater hinzu. Er war kreidebleich, denn er hatte an dem Arm des gestürzten Eidinghäusers ein Armband gesehen, das er seinerzeit mit noch einem Armband seiner Schwester und seinem Schwager zur Hochzeit geschenkt hatte. Beide Stücke hat er von einer Reise nach Venedig mitgebracht.
Als Agnes ihm besorgt ein Glas Wasser anbot, starrte er sie an und schrie: "Wie kommst Du zu der Spange an Deinem Arm?" Agnes erzählte ihm von ihrem Funde. Sofort ging er zum Eidinghäuser, um eine Erklärung von ihm zu fordern. Der schlaue Fuchs erzählte, er habe das Armband von einem durchreisenden Ritter für zehn Dukaten gekauft, und er bekräftigte dies mit seinem Ritterwort. Mit diesem Wort mußte sich der Ritter von Thülen begnügen.
Als er nach Hause kam, schloß er Agnes in seine Arme und sagte: "Jetzt weiß ich, weshalb Du meiner Schwester so ähnlich siehst. Das Armband hat es mir offenbart, daß Du eine Tochter der Verschollenen bist. Fortan sollst Du wie mein eigenes Kind gehalten werden."
Die Herren von Engern kamen jetzt oft in das Thülensche Haus. Kein Jahr war vergangen, da wurde dort eine Doppelhochzeit gefeiert. Wolf holte seine Agnes nach seinem Schlosse unterm Ensenberge, während Christian in das Thülensche Haus heiratete.
Corbach suchte bald einen neuen Torwächter für das Tränketor. Denn Agnes gewährte ihren betagten Pflegeeltern Hege und Pflege in ihrem Schlosse. Von dort konnten die beiden Alten täglich die Corbacher Türme sehen. Denn wenn die rechten Corbacher die Türme ihrer Stadt nicht mehr sehen können, bekommen sie Heimweh.
Den Eidinghäuser erreichte noch auf Erden der Fluch seiner Freveltaten. Eines Tages mußte er elendiglich ertrinken."

Hintergrund

Die Sage weist zahlreiche reale Bezüge auf und ist plausibel in die Zeit des beginnenden 15. Jahrhunderts gesetzt. Die in der Sage erwähnte Padberger Fehde, die mit einem Sieg der Korbacher endete, welchem jährlich am Reginentag (20. Juni) gedacht wird, fand in den Jahren 1413/14 und 1418 statt. Auslöser war ein Streit um das Schloß Oberense. In den 1350er Jahren war das Schloß in Besitz der auch in der Sage erwähnten Herrn von Engern als Lehen der Abtei Corvey. [2] Später hat es Adolf Becheling gehört, dem Schwiegersohn Friedrichs von Padberg. Als Becheling 1410 kinderlos starb, fiel das Schloß an dessen Schwiegermutter, Jutta, die Gattin Friedrichs von Padberg, eine geborene Wolff von Gudenberg. [3] Friedrich von Padberg trug daher das Schloß am 6. November 1410 dem Erzbischof von Köln zu Lehen auf und empfing es von diesem wieder als kölnisches Lehen. Graf Heinrich von Waldeck jedoch beanspruchte das Schloß als heimgefallenes waldeckisches Lehen. [4] Wann es von Corvey in den Besitz der Waldecker Grafen gelangt ist, ist nicht ersichtlich. [5] Nach einem erneuten Überfall der Padberger auf waldeckisches Gebiet im Jahre 1418 endete die Fehde mit der Gefangennahme Johann von Padbergs, Friedrichs Sohn, durch die Korbacher. Das geschilderte Ritterturnier müßte mithin später als 1413/18 stattgefunden haben.
Die genannten Herren von Itter, die an dem Turnier teilgenommen haben sollen, sind im Jahr 1443 mit Erasmus von Itter im Mannesstamm ausgestorben. Das Schloß Oberense, das Wolf von Engern und Agnes bewohnt haben sollen, ging als waldeckisches Lehen im Jahr 1454 an die Familie von Grafschaft. Das Ritterturnier, so man der Sage einen wahren Kern zubilligt, dürfte daher in den 20er oder 30er Jahren des 15. Jahrhunderts abgehalten worden sein.
Ein Zweig der Familien von Thülen, die in dem gleichnamigen Ort bei Brilon ihren Stammsitz hat, war im 15. Jahrhundert in Korbach ansässig. Nach ihr ist der größte Turm der Stadtbefestigung, der Tylenturm, benannt. [6] Schließlich ist auch der Name Heinrich von Megedeveld in Korbach nicht unbekannt. Er stiftete der Stadt 1349 ein Hospital. [7] Bei dem genannten Turnierteilnehmer müßte es sich aufgrund der vergangenen Zeit jedoch um einen gleichnamigen Sohn oder Enkel handeln.

Die in der Sage erwähnte Stechbahn ist die am Rathaus vorbeiführende Hauptstraße der Korbacher Altstadt. Sie soll ihren Namen von den Rittertunieren erhalten haben, die dort abgehalten worden seien.

Eidinghausen ist ein untergegangenes Dorf, das 2,5 km nordöstlich von Korbach, bei Berndorf, lag. An das Dorf erinnern die Eidinghäuser Wege in Korbach und Berndorf sowie die Flurnamen "Eidinghausen" und "Eidinghäuser Berg".

Im Sommer 1978 wurde die Sage von der Festspielgruppe der Schützengilde 1377 als Theaterstück auf der Freilichtbühne im Schießhagen aufgeführt. [8]

Anmerkungen

[1] Marie SCHMALZ, Sagen aus der waldeckischen Heimat, gesammelt und erzählt von Marie Schmalz zu Corbach, durchgesehen und mit einem Geleitwort verstehen von Alexander Copper zu Corbach, Korbach 1913, S. 81-92. Die Sage ist mit gleichem Wortlaut auch abgedruckt bei Hermann THOMAS (Bearb.), Die Häuser in Alt-Korbach und ihre Besitzer, Heft 7, Dalwigker Straße - Am Butterturm - Grabenstraße - Entengasse - Tränkestraße, Stadtarchiv Korbach (Hrsg.) 1960, S. 134-137, und bei Wilhelm HELLWIG (Hrsg.), Sagen und Geschichten aus Korbach und Umgebung, 4. Auflage, Korbach 1999, S. 9-14.
[2] Rudolf KNAPPE, Mittelalterliche Burgen in Hessen, 3. Auflage, Gudensberg 2000, S. 128.
[3] Wolfgang MEDDING, Korbach - Die Geschichte einer deutschen Stadt, 2. Auflage, Korbach 1980, S. 85.
[4] MEDDING (wie Anm. 3).
[5] MEDDING (wie Anm. 3).
[6] MEDDING (wie Anm. 3), S. 98.
[7] MEDDING (wie Anm. 3), S. 67, 79, 346.
[8] Wilhelm HELLWIG (Bearb.), Chronik der Stadt Korbach, Band 2 (1970-1979), Stadtarchiv Korbach (Hrsg.) 1980, Stadtchronik 1978, S. 7.